- Australopithecinen: Die ersten Hominiden
- Australopithecinen: Die ersten HominidenDie Evolution zum Menschen anhand der einschlägigen Fossilgeschichte im Einzelnen nachzuvollziehen ist noch immer ein spannendes und auch mit Schwierigkeiten verbundenes Unterfangen. So klaffte lange Zeit eine große Lücke zwischen zwei bedeutsamen Verzweigungspunkten unserer Stammesgeschichte. Es war zwar bekannt, dass sich vor etwa 5 bis 7 Millionen Jahren die Entwicklungslinie des Menschen von derjenigen der ihm heute nächstverwandten Menschenaffen trennte, doch existierten aus dieser Periode keine fossilen Reste unserer Vorfahren. Der Zeitpunkt der Aufspaltung konnte deshalb nicht genauer bestimmt werden. Es bestand daher die zentrale Frage, in welchen Schritten sich die Entwicklung hin zu diesem aufrecht gehenden Menschenartigen vollzogen hatte.Ardipithecus ramidusNäheren Aufschluss hierüber erbrachte dann ein Fund, der im September 1994 in der Fachpresse beschrieben wurde. Sein Alter wurde mit 4,4 Millionen Jahren angegeben. Entdeckt hatte die Fossilien, um die es sich dabei handelte, am 29. Dezember 1993 Gada Hamed, ein Äthiopier, der zu dem Forschungsteam um Tim White gehörte. Sie waren eingebacken gewesen in den fossilreichen Boden am Oberlauf des Flüsschens Aramis in Äthiopien, eines Seitenarms des Flusses Awash, in dem außer Vormenschenfossilien viele andere versteinerte Primatenknochen, vornehmlich von Affen, nachgewiesen werden konnten. Mehrere Jahre lang waren hier die paläontologischen Schatzsucher gebückt in der flimmernden Hitze durch die Landschaft gegangen auf der beschwerlichen Suche nach kleinen fossilen Knochen und Zähnen, die häufig nur knapp über die Erdoberfläche hinausragen und einem Steinchen ähnlicher sehen können als einem anatomischen Fund, um schließlich im Einzugsgebiet des Aramis sowie in einem Umkreis von etwa vier Kilometern insgesamt fünfzig Überreste jenes Ahnen zu bergen, die sie siebzehn Individuen zuordneten.Vornehmlich gestützt auf zehn zu einem Individuum gehörende recht gut erhaltene Zähne, erhielt das neu entdeckte Glied des menschlichen Stammbaums bei seiner Erstbeschreibung den Namen Australopithecus ramidus, wobei »ramid« in der Sprache der Afar »Wurzel« bedeutet; das sollte wohl ausdrücken, dass dieser bislang älteste Hominidenfund dem letzten gemeinsamen Vorfahren von Menschenaffen und Menschenartigen zumindest sehr nahe steht. Eine eigene Gattungsbezeichnung wurde erst im Mai 1995 geprägt. Seither ist er als Ardipithecus ramidus bekannt.Der Gattungsname Ardipithecus ist genau besehen irreführend, bedeutet er doch, unter Verwendung eines Worts der in der Fundregion gesprochenen Afar-Sprache (»ardi« für »Boden, Grund«), »ein auf dem Boden lebender Affe« oder einfach »Bodenaffe«. Damit wiederholt die Bezeichnung Ardipithecus zumindest terminologisch jene Missdeutung des ersten Australopithecus-Funds von 1924, der zunächst nicht als Menschenartiger, sondern als Affe interpretiert wurde, wie seine wissenschaftliche Kennzeichnung als »Affe des Südens« ausdrückt. Jedoch: Solange die Namengebung eindeutig und die in ihrem Zusammenhang gegebene detaillierte Beschreibung des Funds zutreffend ist, bleibt in der zoologischen Systematik selbst eine semantisch fragwürdige Benennung taxonomisch gültig.Einordnung der Fossilien von Ardipithecus ramidusUm Ardipithecus ramidus tatsächlich als das gesuchte »Missing Link« des menschlichen Stammbaums interpretieren zu können, was die Datierung der gegenüber Australopithecus afarensis etwa 800 000 Jahre älteren Funde nahe legt, musste die Beschreibung von Ardipithecus in Abgrenzung zu Australopithecus afarensis auf der einen sowie zu den Menschenaffen auf der anderen Seite erfolgen. Da von Letzteren, wie erwähnt, keine fossilen Zeugnisse vorliegen, sind solche Vergleiche nur mit rezenten Arten, etwa den Schimpansen als den engsten Verwandten, möglich.Dabei hat, wie so häufig in der Paläontologie, das Gebiss des Urahns, das nahezu vollständig aus Fundstücken rekonstruiert werden kann, eine entscheidende Rolle gespielt. So sind die Schneidezähne im Ober- und Unterkiefer von Ardipithecus ramidus kleiner als die der Schimpansen. Die Eckzähne, es wurden welche von fünf verschiedenen Individuen gefunden, erreichen zwar nahezu dieselbe Länge wie diejenigen weiblicher Schimpansen, sind jedoch im Vergleich zu diesen stumpfer und etwas mehr gebogen und entsprechen damit den durchschnittlichen Größenverhältnissen bei Australopithecus afarensis. Das ist insofern bemerkenswert, als die sich anschließenden Prämolaren und Molaren in Relation hierzu wieder unverhältnismäßig klein ausfallen.Ein ähnlich heterogenes Bild ergibt sich, zieht man mit der Stärke der Zahnschmelzschicht ein weiteres charakteristisches Merkmal zur Einordnung der Aramis-Funde heran. Nach Möglichkeit an bereits zerbrochen aufgefundenen Zähnen festgestellt, um Fossilien nicht zu beschädigen, beträgt sie am Eckzahn von Ardipithecus ramidus 1 mm, während sie bei Schimpansen im Mittel gut 0,6 mm und bei Australopithecus afarensis um 1,5 mm misst. Der einzuordnende Fund liegt somit ungefähr in der Mitte zwischen beiden Nachbarformen, was auch für die Messergebnisse der Schmelzdicke der Molaren gilt.In ihrer Gestalt sind die Prämolaren recht ursprünglich und sehen jenen der Schimpansen in ihrer Höckerstruktur sehr ähnlich, wohingegen die Molaren die für Schimpansen typischen Riffelungen sowie großflächigen Vertiefungen an den Kontaktflächen nicht aufweisen. Stattdessen gleichen sie den Zähnen australopitheciner Hominiden und sind lediglich in Zungen-Wangen-Richtung weniger breit ausgebildet als die Backenzähne von Australopithecus afarensis. Damit gibt das Gebiss insgesamt jenes bunte Mosaik schimpansenähnlicher, hominider und zwischen beiden Formen liegender, intermediärer, Merkmale ab, das Ardipithecus ramidus nun als das gefundene »Connecting Link« zu bestätigen scheint.Vom Schädel wurden bislang nur spärliche Bruchstücke eines Schläfenbeins sowie eines Hinterhauptbeins gefunden. Ersteres weist, wie der Schläfenbeinknochen der Schimpansen, eine bis in den Jochbeinbogen reichende Kammerung auf. Die Grube des Kiefergelenks ist flach, und der Warzenfortsatz hinter dem Ohr, an dem einer der den Kopf neigenden und wendenden Halsmuskeln ansetzt, bildet ebenfalls, ähnlich wie bei den Menschenaffen, lediglich eine stumpfe Erhebung. Die Vertiefung, in der der zweibäuchige Muskel verläuft, senkt sich tiefer ein als bei Schimpansen. Das Fundstück des Hinterhauptbeins umfasst einen Teil des großen Hinterhauptlochs und eine der beiden Gelenkflächen für den ersten Halswirbel (Atlas). Das verdeutlicht, wie klein die Unterstützungsfläche des Schädels auf der Wirbelsäule des frühen Hominiden gewesen ist. Deshalb kann angenommen werden, dass sie wahrscheinlich nur einen entsprechend kleinen Kopf tragen musste, ein eher schimpansenähnliches Merkmal.Insgesamt besitzen die Schädelknochen damit einige funktionell wichtige anatomische Merkmale, die überwiegend schimpansenartig sind, wenngleich die im Vergleich zu den Menschenaffen tiefere Lage des Hinterhauptlochs ein Hinweis auf den aufrechten Gang ist und Ardipithecus in dieser Hinsicht wieder in die Nähe der Hominidenlinie rückt. Bei Ardipithecus ramidus verbindet sich somit ein intermediäres, in der Evolution zum Teil recht stark verändertes Gebiss mit einem Schädel, der weitgehend noch sehr ursprüngliche menschenäffische Züge trägt. Auf diese Weise zeigt der Urahn eine ähnliche Merkmalskombination wie seinerzeit Australopithecus afarensis, bei dem gleichfalls ein relativ modernes Gebiss, das teilweise eher menschenartige Merkmale aufweist, mit einer tendenziell konservativen Schädelmorphologie verbunden ist.Übriges SkelettDas Körperskelett des Ardipithecus ramidus ist bislang noch unbekannt. Die einzigen fossilen Überreste, die nachgewiesen werden konnten, sind sieben Bruchstücke der drei großen Armknochen. Merkmale, die Ardipithecus in die Nähe der Menschenaffen rücken, sind eine großflächige, seitlich ausladende Ansatzfläche für Muskeln nahe dem Ellenbogengelenk sowie ein relativ mächtiger Griffelfortsatz am Ende der Speiche zum Handgelenk hin. Dem Oberarmknochen fehlt jedoch die für die Schimpansen typische tiefe Rinne, durch die eine der beiden Sehnen des zweiköpfigen Oberarmmuskels verläuft. Überdies ist der Kopf des Knochens von eher menschenähnlicher Gestalt. An seiner Vorderseite ist die Kerbe zur Aufnahme der Gelenkfläche der Elle hominidenartig nach vorn orientiert. Der Ellenbogenfortsatz der Elle ist lang und stumpf, was abermals den anatomischen Verhältnissen beim Menschen entspricht. Insgesamt reichen die wenigen Fossilien aus, um die Funde von Aramis als zwischen den Menschenaffen und Australopithecus afarensis stehend einzuordnen.Ein »Missing Link« scheint gefundenSomit lässt die gesamte Merkmalskombination ein »Missing Link« als entdeckt erscheinen. Welche Stelle Ardipithecus jedoch künftig in unserem Stammbaum einnehmen wird, ob er als direkter Vorfahr des Menschen gelten kann oder eine nah verwandte Seitenlinie repräsentiert, ist derzeit noch offen. Vielleicht ist das aber weniger bedeutsam, weil sich heute schon klar abzeichnet, dass Ardipithecus ein seit langer Zeit gesuchtes Bindeglied zwischen Menschenaffen und Hominiden ist und demzufolge dem letzten gemeinsamen Urahn vermutlich sehr nahe steht.Hinter diese Feststellung tritt auch ein anderes Problem zurück, das der paläontologischen Forschung noch zu lösen bleibt. Gerade wenn Ardipithecus genau zwischen den gemeinsamen Vorfahren von Schimpansen und Hominiden steht, ist es nach jetziger Fundlage möglicherweise noch gar nicht entschieden, ob diese Gattung dauerhaft bei den Hominiden eingeordnet bleiben kann oder nicht. White und seine Mitautoren haben ihn zwar mit guten Gründen (vornehmlich gestützt auf die Anatomie der Zahnkronen), als menschenartig eingestuft. Ardipithecus ramidus zeigt jedoch auch eine ganze Reihe ursprünglicher Merkmale. Gerade darin wird er aber seiner Charakterisierung als Übergangsform gerecht, die ihrem Wesen nach gewissermaßen auf der Schwelle zwischen beiden Räumen steht. Erst anhand weiterer, die Kennzeichnung ergänzender Funde wird darüber entschieden werden können, in welchem von ihnen der menschliche Vorfahr letztlich anzusiedeln ist.Der Stammbaum wird vollständigerKurze Zeit nach Ardipithecus ramidus wurde ein Fund beschrieben, der Australopithecus afarensis in seiner Deutung als ältester bekannter Vertreter seiner Gattung ablöste. Das Alter dieser versteinerten Überreste ließ sich anhand der Schichten von Vulkanasche recht genau auf 3,9 bis 4,1 Millionen Jahre und damit etwa 100 000 bis 300 000 Jahre vor jenem Urahn datieren. Damit vermitteln sie zwischen dem frühen aufrecht gehenden Menschenartigen und Ardipithecus und deuten überdies darauf hin, dass wahrscheinlich bereits in der Zeit der ersten Hominiden mehrere Arten nebeneinander existierten.Im August 1995 meldeten die renommierte Paläoanthropologin Meave Leakey und ihre Mitarbeiter 21 einschlägige Fossilien, die sie der neu unterschiedenen Art Australopithecus anamensis zuwiesen. Alle Funde wurden in Kanapoi und Allia Bay nahe dem kenianischen Turkana-See beziehungsweise an einem Ort gemacht, der zu Lebzeiten jener Hominiden am Ufer des Vorläufers des heutigen Sees lag, und »See« heißt in der Turkana-Sprache »anam«.Die Beschreibung der Art basiert auf einem Unterkiefer von Australopithecus anamensis, der die Bezeichnung KNM —KP 29281 trägt. In ihm sind die Zähne des Urahns nahezu vollständig erhalten und in U-Form angeordnet: Die Prämolaren und Molaren der beiden Kieferhälften bilden zwei parallele, gerade und recht eng beieinander stehende Reihen, während Australopithecus afarensis bereits einen leicht parabolischen, rachenwärts zunächst breiter werdenden Zahnbogen besitzt, wobei allerdings die hintersten Backenzähne beider Gesichtshälften wieder enger stehen. Bei der Gattung Homo schließlich ist die Öffnung des Zahnbogens rachenwärts wesentlich deutlicher ausgeprägt.Der lange und schmale Mundraum von Australopithecus anamensis wirkt demzufolge sehr ursprünglich. Die Morphologie der Zähne, namentlich die der kräftigen, großen Backenzähne, weist den Fund jedoch eindeutig als australopithecinen Unterkiefer aus. Das gilt gleichermaßen für die Stärke des Zahnschmelzes. Sie stimmt nahezu mit der bei Australopithecus afarensis festgestellten überein und ist damit stärker ausgeprägt als die der Zähne von Ardipithecus. Im Unterschied zu Australopithecus afarensis ist die neu entdeckte Art allerdings durch ein stark fliehendes Kinn und wesentlich robustere Eckzähne mit kräftigen Wurzeln gekennzeichnet.Am Fragment eines Schläfenbeins ist ein enger Gehörgang festzustellen, wie ihn Schimpansen und Gorillas besitzen. Er ist im Querschnitt lediglich halb so groß wie der von Australopithecus afarensis oder des Menschen, die sich in diesem Merkmal oft erstaunlich ähneln.Weitere charakteristische und funktionell bedeutsame Merkmale von Australopithecus anamensis sind am übrigen Skelett auszumachen, von dem jedoch bislang nur wenige Überreste entdeckt worden sind. So weist ein dem Ellenbogengelenk nahes Bruchstück eines Oberarmknochens eine auffallend dicke Knochenschicht auf, die einen engen Markraum umgibt. Das lässt sich als Hinweis auf eine kräftige Armmuskulatur interpretieren, wie sie in dieser Ausprägung bei Australopithecus afarensis nicht vorliegt. Andere Oberarmknochen, die zum selben Fundkomplex gehören, jedoch erst später in diesem Sinn verstanden worden sind, zeigen daneben sehr menschenähnliche Merkmale, wie etwa die an den Knochen sichtbaren Anheftungsstellen von Bändern, die Bestandteile der Kapsel des Ellenbogengelenks sind. Darüber hinaus kann anhand zweier weiterer Fragmente, des oberen und des unteren Endes eines rechten, wahrscheinlich einem Individuum zuzurechnenden Schienbeins, die Körpermasse von Australopithecus anamensis auf 47 bis 55 kg geschätzt werden, wenn man die Anatomie des Menschen zum Vergleich nimmt. Sie läge damit etwas über der Körpermasse der Pygmäen und wäre auch größer als die durchschnittliche Körpermasse männlicher Vertreter von Australopithecus afarensis. Diejenige der Afarensis-Frauen überträfe sie wahrscheinlich um das Anderthalbfache.Ein SchienbeinVon besonderer Bedeutung für die Interpretation der Anamensis-Funde sind die Schienbeinfragmente in ganz anderer Hinsicht, denn sie weisen einige Merkmale auf, die kennzeichnend sind für einen aufrechten Gang. Die Flächen für die beiden Gelenkrollen des Oberschenkelknochens sind in Gehrichtung länglich und von ähnlicher Größe. Der Knochenschaft ist sehr gerade. Die Gelenkfläche zum Wadenbein nahe dem Knie ist zwar weggebrochen, doch ist die Bruchfläche für das fehlende Stück dermaßen klein, dass dieses Gelenk ebenfalls so geringe Ausmaße gehabt haben muss, wie sie für den Menschen typisch sind. Auch die Gelenkfläche des oberen Sprunggelenks zur Aufnahme der Gelenkrolle des Sprungbeins ist eher der beim Menschen ähnlich als einem schimpansenartigen Typus. Lediglich die Ansatzstellen zweier Muskeln des Kniegelenks sind in ihrer Gestalt primitiv und ähneln den Verhältnissen bei Menschenaffen. Es handelt sich hierbei jedoch um Merkmale, die auch bei Australopithecus afarensis noch die gleiche ursprüngliche Ausformung besitzen, die in der Evolution also offenbar erst später umgestaltet wurden.Trotz der noch spärlichen Funde kann man schon jetzt den Schluss ziehen, dass der aufrechte Gang in der Evolution bereits bei den ersten Hominiden entstand. Das Schienbein mit einem Alter von über 4 Millionen Jahren dokumentiert den aufrechten Gang um vieles früher als andere Fossilfunde. Es ist ein wesentlich stärkeres Indiz als die Funde der Armknochen von Ardipithecus ramidus, an denen sich Merkmale des aufrechten zweifüßigen Gangs naturgemäß viel weniger deutlich ausprägen.Australopithecus anamensis im menschlichen StammbaumNach Ansicht von Meave Leakey und ihren Mitarbeitern kommt Australopithecus anamensis durchaus als Vorfahre von Australopithecus afarensis infrage, obwohl die Autoren einräumen, dass mit der Entstehung des aufrechten Gangs und der damit einhergehenden Dynamik der Evolution mehr als eine Hominidenart existiert haben mag. Die als älter datierten Funde von Ardipithecus ramidus schätzen sie eher als einer möglichen Schwestergruppe zugehörig ein, die allen anderen Hominiden gegenüberstand. Dies würde bedeuten, dass Ardipithecus einen Seitenzweig unseres Stammbaums repräsentiert. Mit dieser Interpretation durch die Entdecker selbst käme Australopithecus anamensis die Rolle als mögliche Stammform aller späteren Hominiden zu, und gleichzeitig wäre er der bisher älteste Hominide auf dem zum Menschen führenden Ast des Stammbaums.Lucys SippeWo immer die Stammesgeschichte des Menschen erörtert wird, kommt einem Vorfahren besondere Bedeutung zu, der bereits wiederholt Erwähnung fand: Australopithecus afarensis. Bis zur Erstbeschreibung von Ardipithecus ramidus 1994 als ältester Hominide betrachtet, steht sein Name nicht nur für einen ersten, gewissermaßen originären Urahnen des Menschen. Vielmehr repräsentiert er eine Evolutionsstufe, die die paläoanthropologische Forschung noch immer in ihren Bann zieht.Australopithecus afarensisVon diesem herausragenden entwicklungsgeschichtlichen Abschnitt legen bislang mehr als 300 Fossilien Zeugnis ab, die Australopithecus afarensis zugeordnet werden können und, je nach Interpretation, mehr als 40, möglicherweise auch bis zu 70 Individuen zuzurechnen sind. Die Mehrzahl dieser Funde stammt aus Hadar, einem am Unterlauf des Flusses Awash in der Afar-Senke gelegenen Tal, und wurde damit nur gut fünfzig Kilometer nördlich des Fundkomplexes von Ardipithecus ramidus entdeckt. Die Afar-Senke, die Teil des an hominiden Funden reichen Ostafrikanischen Grabensystems ist, nahm zeitweise einen großen See auf. Hier bewohnte Australopithecus afarensis die Landstriche in der Nähe jenes Sees, für die offene Wälder charakteristisch waren, sowie dichtere Galeriewälder in Ufernähe auch der zuleitenden Flüsse. Die anderen Verbreitungsgebiete von Australopithecus afarensis waren ebenfalls durch eine solche Landschaft gekennzeichnet, und Übereinstimmendes gilt für den Lebensraum des im Tschad gefundenen Australopithecus bahrelghazali.Das geologische Alter von Australopithecus afarensis kann vergleichsweise genau bestimmt werden, wozu nicht allein zoologische Kriterien, sondern unter anderm auch die spezifischen örtlichen Gegebenheiten im Gebiet um Hadar beitragen. In dieser vulkanisch aktiven Region hat relativ häufiger, wenngleich unregelmäßiger Ascheregen zur Ausbildung von deutlich abgrenzbaren Schichten von Tuffgesteinen geführt, die nun gewissermaßen als paläontologische Zeitmarken dienen können. An ihnen orientiert sind die jüngsten einschlägigen Fossilienfunde auf etwa 2,8 Millionen Jahre zu schätzen, während Australopithecus afarensis hauptsächlich für den Zeitraum von 3,6 bis 3 Millionen Jahre vor unserer Zeit dokumentiert ist. Einige fragmentarische Funde reichen sogar möglicherweise noch weiter zurück, doch muss ihre systematische Zuordnung zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch als ungesichert gelten.LucyZu den ersten beschriebenen Fossilien, die der Hominidenart Australopithecus afarensis zuzurechnen sind, zählen das bereits 1939 in Garusi (Tansania) nachgewiesene Bruchstück eines Oberkiefers sowie die Unterkiefer eines Kinds und eines Erwachsenen mit den Fundbezeichnungen L.H. 2 beziehungsweise L.H. 4, die im nahe gelegenen Laetoli entdeckt wurden. Allerdings legten erst die Funde von Hadar eine solche systematische Interpretation nahe. Denn ein Vergleich des Unterkiefers L.H. 4 mit einem in der Afar-Senke ausgegrabenen machte deutlich, dass es sich bei den äthiopischen und den tansanischen Fossilien offensichtlich um Überreste derselben Art handelt. Diese wurden schließlich 1978 durch Donald Johanson, Tim White und Yves Coppens erstmals als Australopithecus afarensis beschrieben.Die Funde von Hadar sind das Ergebnis einer umfassenden Grabungsexpedition, die in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre zunächst unter der Regie französischer Forscher durchgeführt wurde, wobei besonders der Paläontologe Yves Coppens hervorzuheben ist. In akribischer Kleinarbeit gelang es den Wissenschaftlern, die Überreste von insgesamt vermutlich 13 Individuen nachzuweisen, die bis zu 3,4 Millionen Jahre alt sind und von Donald Johanson in seinen Publikationen gelegentlich als Familie bezeichnet wurden. Hätte das allein im Grunde schon genügt, den Erfolg des paläontologischen Forschungsunternehmens zu sichern, so verschaffte ihm das prominenteste Mitglied jener Sippe schließlich endgültig Eingang in die Annalen der paläoanthropologischen Forschung. Denn was in der Saison 1974/75 nüchtern als Fund A.L. 288 registiert wurde, ist nicht weniger als eins der besterhaltenen Skelette früher Hominiden überhaupt. Im Boden von Hadar vermochten die Wissenschaftler ein Knochengerüst nachzuweisen, dessen Vollständigkeit unter einigen Hundert Individuen der gesamten Fossildokumentation nur noch ein Skelett von Homo erectus erreicht.Dabei gebührt Donald Johanson das Verdienst, die ersten Knochen jenes als »Lucy« bekannt gewordenen »Menschen von Hadar« entdeckt zu haben, von dem mit Fragmenten des Schädels und großen Teilen der Wirbelsäule, der Arme sowie vor allem des Beckens und der Beine unschätzbar wertvolle Dokumente überliefert sind. Da insgesamt etwa 40 % des Skeletts dieses frühen Hominiden erhalten geblieben sind, hat sich der paläontologischen Forschung eine Möglichkeit seiner funktionellen Interpretation eröffnet, die gänzlich neue Dimensionen erschlossen und nicht zuletzt dadurch die systematische Einführung von Australopithecus afarensis ermöglicht hat. Zudem repräsentiert der Jahrhundertfund aus evolutionsgeschichtlicher Sicht auch mehr als zwanzig Jahre nach seiner Entdeckung noch immer ein wichtiges Bindeglied zwischen den Menschenaffen und der Gattung Homo, und zwar in großer Einhelligkeit auch für jene Paläontologen, die sich ansonsten heftig über die funktionellen Einzelheiten der Interpretation der Hadar-Funde zu streiten wissen. Auch ihnen war und ist Lucy ganz unzweifelhaft ein Juwel der Paläoanthropologie, zumal es sich bei Australopithecus afarensis um einen direkten Vorfahren des Menschen handeln könnte. Allenfalls ein ähnlich vollständiger Fund, etwa von Ardipithecus oder einer gegenwärtig noch unbekannten frühen Hominidenart, könnte seine herausragende Bedeutung relativieren.Größe und ProportionenBei eingehender Untersuchung der Fossilienfunde hinsichtlich einzelner Merkmale ist zunächst festzustellen, dass die Körpergrößen, -massen und -proportionen der hier dokumentierten Individuen zum Teil deutlich variieren. Allerdings ist das nur einigen Wissenschaftlern Anlass, die Fossilien deshalb zwei unterschiedlich robusten systematischen Kategorien zuzuordnen. Die Mehrheit der Forscher stimmt vielmehr darin überein, solche Abweichungen auf den auch für viele andere Primaten typischen Geschlechtsdimorphismus zurückzuführen. Diese Perspektive erlaubt es, die heterogenen Fundstücke durchaus einer einzigen Art, eben Australopithecus afarensis, zuzuordnen, indem davon ausgegangen werden kann, dass es sich bei Individuen mit einer Körpergröße von 105 bis 110 cm um deren weibliche Vertreter handelt, während Individuen mit einer Körpergröße von 145 bis 150 cm als männliche Vertreter anzusehen sind. Die entsprechenden Körpermassen belaufen sich auf durchschnittlich etwa 29 kg im weiblichen Geschlecht (ein Wert, der etwas unterhalb desjenigen von Schimpansenweibchen liegt) und etwa 45 kg im männlichen (was ungefähr der Körpermasse männlicher Schimpansen entspricht).Hieraus konkrete Körperproportionen zu ermitteln gestaltet sich schwierig, weil abgesehen von dem recht vollständigen Skelett Lucys meistenteils nur wenig aussagekräftiges Material besonders der Gliedmaßenknochen von Australopithecus afarensis vorliegt. Deshalb verglich Henry Malcom McHenry, auf den die derzeit wohl sorgfältigste Rekonstruktion der Körperproportionen zurückgeht, den 105 cm großen prominenten Hadar-Fund außer mit den Proportionen von Schimpansen auch mit einer 123 cm großen Pygmäin. Danach sind die Arme Lucys in Relation zur Wirbelsäule nur etwas kürzer als die des kleinen heutigen Menschentyps. Deutlich kürzer hingegen sind ihre Beine, wenngleich diese auch länger sind als die der Menschenaffen, sodass die Hände des frühen Hominiden bis zu seinen Knien reichten.Merkmale des SchädelsDer Schädel von Australopithecus afarensis ist bislang noch kaum dokumentiert, denn gegenwärtig liegt nur ein einschlägiger Fund vor, der weitgehend komplett erhalten ist, das 1944 in Kada Hadar entdeckte Fossil mit der Bezeichnung A.L. 444-2.Dabei gleicht die Anatomie dieses besonders großen Schädels in hohem Maß derjenigen der Schimpansen. So ist beispielsweise der Gesichtsschädel stark prognath, das heißt, auch hier springt die Gesichts- und Mundregion stark hervor. Die Schädelbasis jenes Vorfahren ist, derjenigen aller Menschenaffen vergleichbar, nur wenig geknickt, und auch die Nackenregion seines Schädels stimmt mit der von Schimpansen überein. Lediglich den Knochenkamm, der offensichtlich bei einigen männlichen Vertretern von Australopithecus afarensis längs über die gesamte Schädelmitte verläuft und Ausdruck einer starken Kaumuskulatur ist, sucht man bei den Schimpansen vergebens.Differenzierter zu betrachten ist das Verhältnis zwischen Australopithecus afarensis und den Menschenaffen hinsichtlich der Größe des Hirnschädels, der bei diesem frühen Hominiden im Verhältnis zu seinem prognathen Gesichtsschädel sehr klein ist. Für die Funde von Hadar wurde ein Hirnschädelvolumen von 310 bis zu 485 cm3 ermittelt. Der daraus ermittelte Durchschnitt zwischen 400 und 415 cm3 liegt etwas unter dem der Schimpansenart Pan troglodytes, die ein Hirnvolumen von 440 cm3 hat. Zieht man jedoch die Tatsache in Betracht, dass Australopithecus afarensis (unter Berücksichtigung beider Geschlechter) im Mittel von etwas kleinerer Statur war als ein Schimpanse, so hat das Gehirn bei Australopithecus afarensis vermutlich immerhin 1,3 % bis 1,9 % der Körpermasse entsprochen, wohingegen das Gehirn des Schimpansen nur etwa 1 % seiner Körpermasse ausmacht. Beim modernen Menschen sind es fast 2,5 %.Kiefer und GebissWenn man die Charakteristika ihres Gebisses näher betrachtet, dann erkennt man, dass sich der Gebissschädel Lucys und ihrer Artgenossen im Oberkiefer durch einen sehr flachen Gaumen auszeichnet. Zudem erscheint ihr Unterkiefer von der Seite her gesehen mächtiger als jener von Schimpansen, und auch ihr Zahnbogen weicht von dem der Menschenaffen ab. Denn er ist nicht U-förmig lang gestreckt, sondern geschwungen, wenngleich weniger stark als etwa der Zahnbogen des Menschen und, anders als dieser, nicht parabelförmig. Der Schweizer Anthropologe Peter Schmid beschreibt seine Gestalt als beinahe rechteckig. Durch solche Kieferproportionen ist die Beißkraft der Schneidezähne von Australopithecus afarensis größer als diejenige der Backenzähne der Menschenaffen.Die Zähne des frühen Hominiden ähneln teils denen der Schimpansen, teils denen der Menschen. So ist einerseits wie bei den Menschenaffen auch bei Australopithecus afarensis das mittlere Schneidezahnpaar größer als das seitliche. Anderseits sind die Eckzähne der Afar-Hominiden deutlich kleiner als die der Schimpansen, wenn auch nicht ganz so unauffällig wie beim Menschen, wobei sich männliche und weibliche Individuen bemerkenswerterweise kaum unterscheiden. Ihre Backenzähne sind größer als die von Schimpansen und übertreffen, bezogen auf die Körpermasse, überhaupt die aller heute existierenden Menschenaffen. Außerdem fällt bei Lucy und ihren Verwandten die Lücke im Oberkiefer, die bei Schimpansen den unteren Eckzahn aufnimmt, deutlich kleiner aus oder fehlt sogar fast ganz. Damit nimmt Australopithecus afarensis eine Mittelstellung zwischen den nah verwandten Menschenaffen und dem Menschen ein, dessen Zahnreihe ein solches Diastema nicht aufweist.Aus diesem Gesamtbild des Gebisses schließen einige Fachleute, dass sich der frühe Hominide großteils von Früchten ernährte und auch Nüsse, Körner sowie andere harte Pflanzenteile zu seiner Kost gehörten. Über den Anteil der Fleischnahrung bestehen unterschiedliche Auffassungen, doch herrscht Übereinstimmung in der Auffassung, dass Australopithecus afarensis vornehmlich vegetarische Kost zu sich genommen hat.Erhobenen HauptsWo die Stammesgeschichte des Menschen im Hintergrund paläontologischer Forschung steht, ist ein Merkmal von Australopithecus afarensis von besonderer Bedeutung, wenn neben der Größe des Gehirns und der mit ihr verbundenen kulturschaffenden und kommunikativen Leistungsfähigkeit auch die Art der Fortbewegung zu den charakteristischen Eigenschaften des Menschen gezählt wird: der aufrechte Gang. Hierüber geben die Hadar-Fossilien in ausgezeichneter Weise Aufschluss, denn wie kein anderer Fund früher Hominiden bietet das Skelett Lucys in seiner relativen Vollständigkeit Anhaltspunkte für eine entsprechende Interpretation.So zeigen die Arme trotz menschenähnlicher Proportionen noch Merkmale kletternder und hangelnder Fortbewegung. Denn das Schultergelenk ist nicht wie beim Menschen seitlich, sondern nach oben orientiert, was das Heben der Arme über den Kopf erleichtert. Auch sind die Fingerknochen, wahrscheinlich in Anpassung an das Festhalten an Ästen, schimpansenähnlich gekrümmt. Brigitte Demes, Holger Preuschoft und Hartmut Witte haben erkannt, dass unter anderm die Schulterbreite, die bei dem frühen Hominiden noch geringer ist als beim Menschen, eine Aussage über die ausgleichenden Schwingkräfte der Arme beim Gehen erlaubt.Die unteren Gliedmaßen vermitteln ein anderes Bild. Sie rücken den »Menschen von Hadar« in die Nähe des modernen Menschen. Bei ihnen weist Lucy die meisten anatomischen und funktionellen Übereinstimmungen mit dem modernen Menschen auf und damit die meisten Merkmale, die für eine aufrechte Fortbewegung sprechen. Das gilt insbesondere für den Beckengürtel. Ein kurzes und verbreitertes Darmbein eignet sich bei einer Aufrichtung des Körpers, die Baucheingeweide zu tragen. Außerdem bietet es dem Großen Gesäßmuskel eine große Ansatzfläche und schafft durch seine Form günstige Hebelverhältnisse zur Streckung für den aufrechten Gang. Gleiches gilt für die Muskulatur, die das Bein abspreizt sowie beim Gehen das Herunterkippen des Beckens auf der Seite des Spielbeins verhindert.Das Becken weist am oberen Ast des Schambeins eine schmale Rinne auf, die funktionell so wie beim Menschen interpretiert werden muss. Denn beim Gehen und Laufen schwingt der Hüftlendenmuskel das Spielbein nach vorn. Um diese Funktion zu erfüllen, entspringt er an der den Eingeweiden zugewandten, vorderen Seite der Darmbeinschaufel sowie der Wirbelsäule und verläuft durch die Leistenbeuge hindurch zur Vorderseite des Oberschenkelknochens, dem Femur. Ist das Bein nach hinten durchgeschwungen, so wird der wichtige Laufmuskel bei seinem Durchtritt unter dem Leistenband über dem oberen Schambeinast wie über eine Rolle umgelenkt, wobei er durch eine leichte Vertiefung in diesem Knochen geführt wird. Eben diese Rinne findet sich sowohl bei Australopithecus afarensis als auch beim Menschen und weist demnach auf eine dem Menschen ähnliche Bipedie des frühen Hominiden hin.Das Knie von Lucy ist ebenfalls eindeutig das eines Aufrechtgängers. So bildet die Längsachse ihres Oberschenkelknochens, ähnlich wie beim Menschen, mit der des Schienbeins einen Winkel, der am Skelett den Eindruck von X-Beinen erweckt, und setzt sich nicht wie bei Vierfüßern gerade fort. Auch stimmen die Gelenkrollen der Oberschenkelknochen am Kniegelenk in ihrer Gestalt viel eher mit denen des aufrecht gehenden Menschen als mit denen der Menschenaffen überein. Denn wie beim Menschen erscheinen sie von der Seite her betrachtet elliptisch, wohingegen sie bei Schimpansen aus dieser Perspektive viel runder sind. Bei Ersteren gewährleisten sie den für die bipeden Hominiden typischen Funktionsunterschied der hohen Beweglichkeit des Fußes bei gebeugtem Knie einerseits und den festen Schluss des Kniegelenks bei gestrecktem Bein anderseits.Die Gliedmaßen von Lucy lassen demnach auf einen gewohnheitsmäßig aufrechten Gang von Australopithecus afarensis schließen, der wahrscheinlich ein Gattungsmerkmal von Australopithecus insgesamt ist, kennzeichnend auch für alle nachfolgenden Hominiden. Gleichwohl bleiben noch viele Fragen zur Klärung offen, wenn, wie erwähnt, insbesondere anatomische Merkmale der oberen Extremitäten darauf hindeuten, dass sich der »Mensch von Hadar« in den Wäldern seines Lebensbereichs nicht ausschließlich im aufrechten Gang am Boden bewegte, sondern auch noch in den Bäumen kletterte. So werden denn auch widerstreitende Meinungen hinsichtlich der Gangmechanik und des Grads der Anpassung von Australopithecus an die aufgerichtete Haltung vertreten.Die Fußspuren von LaetoliDie These einer Aufrichtung von Körperhaltung und Gang bereits der Australopithecinen ist vor allem gestützt auf die funktionell-anatomische Interpretation des relativ vollständigen Skeletts des Australopithecus afarensis »Lucy« und der wenigen Fragmente von Australopithecus anamensis; auch schon früher entdeckte Australopithecus-Fossilien wurden in diesem Sinn gedeutet. Ein empirischer Beweis des aufrechten Gangs jener frühen Hominiden fehlte — bis im Gebiet von Laetoli eine überraschende Entdeckung gelang.Hier, in einer Region, die unweit der Olduvai-Schlucht in Tansania heute auf einem Plateau etwa 1700 Meter über dem Meer liegt und in der der deutsche Anthropologe Ludwig Kohl-Larsen schon in den 1930er-Jahren neben Tierfossilien auch das Bruchstück eines hominiden Oberkiefers gefunden hatte, lagerte der etwa 20 Kilometer entfernte Vulkan Sadiman bei seinen Ausbrüchen Vulkanasche ab. In dieser Asche hinterließ seine Fährte, wer immer durch den frischen Niederschlag ging. Andrew Hill entdeckte 1976 in einer der im Lauf von Jahrmillionen zu Tuffgesteinen verfestigten Ascheschichten urgeschichtliche Spuren, was dieser Schicht im Fachjargon die Bezeichnung Footprint Tuff (Fährten-Tuff) eingebracht hat. Zehntausende von Abdrücken haben die unterschiedlichsten Wirbeltiere in diesem Boden hinterlassen, und sogar Kriechspuren von Insekten fanden sich. Dabei ist die Wahrscheinlichkeit, mit der sich Fährten solcherart fossil erhalten können, so gering, dass ein Forscher dazu einmal bemerkte: »Es wäre Gotteslästerung, in einem Gebet darum zu bitten, einmal gut erkennbare, fossile Fußabdrücke der frühesten Hominiden zu finden.«Genau das aber geschah zwei Jahre später, als der Amerikaner Paul Abell an einer anderen Stelle derselben Tuffschicht auf einen Fußabdruck stieß, der offenbar menschenartig war, ja mehr noch: Bei der Freilegung der gesamten Fußspur durch das Grabungsteam von Richard Hay und Mary Leakey, die bereits in den 1950er-Jahren mit ihrem Mann Louis in dieser Region nach Fossilien gesucht hatte, zeigte sich, dass dort wahrscheinlich sogar drei Individuen gemeinsam gegangen waren. Überdies wurden in Laetoli schließlich nicht nur in einer, sondern in etlichen verschiedenen Tuffschichten Fährten früher Hominiden gefunden.Über die Schlussfolgerungen, die aus diesen so ungemein wertvollen Entdeckungen zu ziehen wären, entwickelten sich in den Folgejahren zum Teil heftige wissenschaftliche Auseinandersetzungen. Diese galten weniger der Art der Fortbewegung, denn es stand unzweifelhaft fest, dass alle drei Hominiden auf zwei Füßen gegangen sein mussten. Es wurden keine Abdrücke der Hände gefunden, und die Art des Abdrucks der Fußsohlen schloss einen anderen als den aufrechten Gang aus. Meinungsverschiedenheiten bestanden vielmehr hinsichtlich der Art des Gangs — rollten die Menschenartigen beim Gehen von außen nach innen und über den großen Zeh ab, wie der Mensch, oder ruhte ihr Gewicht bei jedem Schritt mehr auf der Außenseite des Fußes, wie bei Schimpansen? — sowie über die Hominidenart, die hier ihre Fußspuren hinterlassen hatte. Zieht man in Betracht, dass das Alter des Footprint Tuffs anhand der Kalium-Argon-Methode sehr zuverlässig mit 3,5 Millionen Jahre bestimmt werden konnte, so kommt nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand nur Australopithecus afarensis als Verursacher der Spuren infrage. Damit haben die Fußspuren von Laetoli aus Sicht der Paläontologie den Beweis erbracht, dass schon mehrere Hunderttausend Jahre vor Lucy Hominiden lebten, die gewohnheitsmäßig aufrecht gingen. Daher kann es nach diesen Befunden nicht mehr verwundern, dass der »Mensch von Hadar« die Anatomie eines aufrecht gehenden Hominiden in fortgeschrittener Ausprägung besitzt.Der Fuß jener Australopithecinen hatte bereits eine gerundete Ferse und nicht mehr das spitze Fußende der nah verwandten Menschenaffen. Zudem wies er, wenngleich weniger ausgeprägt, schon die Wölbung auf, die den menschlichen Fuß kennzeichnet. Schließlich war die große Zehe fast geradeaus nach vorn gerichtet; der im Vergleich zum Fuß des heutigen Menschen größere Abstand der großen Zehe zur zweiten Zehe mag daher rühren, dass das weiche Material des Untergrunds die ersten beiden Zehen beim Abrollen des Fußes auseinander drückte und so ein etwas anderes Fährtenbild entstand. Doch selbst wenn die Großzehe noch etwas abgespreizt gewesen sein sollte, war sie jedenfalls nicht als Greifzehe, sondern eher als Laufzehe ausgebildet.Die Tiefe des Fußabdrucks lässt auch Rückschlüsse auf die beim Abrollen auftretenden Kräfte zu. Man kann klar den Abrollvorgang eines Aufrechtgängers konstatieren, und das zu einer Zeit, als von einer beschleunigten Entwicklung des Gehirns der Hominiden noch nicht zu reden war. Viel besser als alle Skelettfunde beweist die fossile Spur des Verhaltens der Individuen, dass sich der aufrechte Stand und der aufgerichtete Gang rund anderthalb Millionen Jahre vor der beschleunigten Vergrößerung des Gehirns entwickelte.MenschheitsdämmerungRaymond Dart war 31 Jahre alt und seit kurzem Professor für Anatomie an der Witwatersrand-Universität in Johannesburg, Südafrika, als er im Jahr 1924 eine epochale Entdeckung machte: Im Kalksteinbruch von Buxton bei der Ortschaft Taung, in der Nähe von Kimberley im Westen Südafrikas, waren wieder einmal bei einer Sprengung Fossilien zum Vorschein gekommen. Dart hatte ein Sammelsurium davon in Kisten verpackt erhalten und erkannte unter den Fundstücken den weitgehend erhaltenen Schädel und Unterkiefer eines Hominiden sowie den dazugehörigen fossil gefüllten Kern des Schädelinnenraums.Das Kind von TaungDieser Kern hatte die Form eines Hirnabgusses (Endocranialausguss), das heißt, er zeigte schwach angedeutet die Windungen und Furchen des Gehirns. Solch ein Abbild kommt manchmal zustande, wenn sich ein fossiler Schädel mit Material füllt, das dann später selbst versteinert. Dart war bereits beim ersten Anblick des Funds davon überzeugt dass es sich dabei um Hirnabguss und Schädel eines Hominiden handelt. Vor allem die relative Lage der Gehirnfurchen zueinander, die aus dem Innenabdruck erkennbare relativ hohe, runde Gehirnform und die eher senkrecht aufsteigende Stirn veranlassten Dart zu dieser Vermutung. Nach mühsamer, fast einen Monat dauernder Präparation hatte er den Gesichtsschädel des Funds freigelegt, der ein vollständiges Milchgebiss mit einem gerade durchbrechenden Backenzahn besaß. Ihren vielleicht wichtigsten Beleg freilich fand die Interpretation Darts in einem anderen auffälligen Merkmal des Fossils, der Lage des großen Hinterhauptlochs (Foramen magnum), durch welches das Rückenmark aus dem Schädel tritt. Wie ansonsten nur vom Menschen bekannt, befindet es sich bei diesem Fossil weiter vorn an der Schädelbasis. Dart schloss daraus, dass das Fossil von einem Individuum stammen musste, das aufrecht auf zwei Beinen gegangen war. Bei Tieren, die sich wie etwa die Affen auf vier Beinen fortbewegen, liegt das Foramen magnum weiter hinten am Schädel.Das Alter des Individuums schätzte er aufgrund des gerade durchbrechenden Backenzahns auf etwa sechs Jahre. Abgesehen von den auf einen Hominiden hinweisenden Merkmalen wies dieses jung gestorbene Wesen viele Übereinstimmungen mit einem Menschenaffen auf, unter anderen ein relativ weit vorragendes Gesichtsskelett und ein kleines Gehirn.Späte AnerkennungIm Jahr 1925 erschien, unter der wissenschaftlichen Bezeichnung Australopithecus africanus, Darts Beschreibung des Funds in der britischen Wissenschaftszeitschrift »Nature«. Dabei vertrat der Paläontologe, der davon überzeugt war, in seinem Fund einen frühen Vorfahr des Menschen in Gestalt einer affenähnlichen Übergangsform vor sich zu haben, die Auffassung, dass es sich bei dem »Kind von Taung«, wie der Fund bald überall genannt wurde, um das »Missing Link« der Menschwerdung handele. Während seine Entdeckung und deren Interpretation in der Öffentlichkeit als Sensation empfunden wurde — es war bis dahin noch kein fossiler Hominide beschrieben worden —, wurde Darts Auffassung in der wissenschaftlichen Welt aber nur mit Skepsis aufgenommen und für geraume Zeit von nahezu niemandem geteilt. Da es sich bei dem Fund um ein kindliches Individuum handelte, dessen Merkmale noch nicht so ausgeprägt und aussagekräftig waren wie bei einem erwachsenen, und da eingehendere Untersuchungen noch ausstanden, hatte Dart seine Überzeugung in der Tat vielleicht etwas zu voreilig vorgetragen. Er fühlte sich jedoch in seiner früheren Einschätzung, dass es sich bei dem Kind von Taung um einen frühen Hominiden handelt, bestätigt, nachdem es ihm gelungen war, den Unterkiefer in mühsahmer, vierjähriger Arbeit aus dem Kalkstein herauszupräparieren. Er konnte ihn danach vom übrigen Gesichtsschädel lösen und so das Gebiss des Kinds genauer untersuchen.Trotzdem blieb er mit seiner Auffassung allein, obwohl 1936 der schottische Paläontologe Robert Broom die Fragmente eines Erwachsenen-Hirnschädels von Australopithecus africanus aus Sterkfontein beschrieb. Broom sah die Ähnlichkeit zwischen dem neuen Schädelfund und dem des Kinds von Taung und stufte ihn daher zunächst als der Gattung Australopithecus zugehörig ein, indem er den Hominiden Australopithecus transvaalensis nannte, zwei Jahre später stellte er ihn jedoch in eine eigene Gattung, Plesianthropus. So verhalfen erst weitere Funde von Fossilien in Sterkfontein und an den ebenfalls südafrikanischen Fundorten Kromdraai, Swartkrans und Makapansgat 1947 Darts Deutung zu wissenschaftlicher Anerkennung.Systematische Einordnung von Australopithecus africanusDie genaue Einordnung des Funds von Taung ist dennoch bis heute umstritten geblieben. Denn die Arten der Gattung Australopithecus werden nach morphologischen Gesichtspunkten in drei Gruppen unterteilt: die Australopithecinen-Stammgruppe sowie die grazilen und die robusten Australopithecinen. Das Kind von Taung wird meist zu den grazilen Australopithecinen gestellt, wenngleich in neuerer Zeit auch erwogen wird, ob es nicht doch eher den robusten Australopithecinen zuzuordnen sei. Der Fund würde hiernach die diese Gruppe kennzeichnende Robustheit deshalb nicht aufweisen, weil sie sich an dem Kinderschädel noch nicht ausgeprägt hätte. Da das Kind von Taung der erste Vertreter der Art Australopithecus africanus war, der beschrieben wurde, würde das bedeuten, dass die grazile Art Australopithecus africanus letztlich anhand einer anderen, nämlich einer robusten Art, beschrieben worden wäre. Gesichert ist zurzeit jedoch weder die eine noch die andere Annahme, sodass hier weiterhin davon ausgegangen wird, dass das Kind von Taung, entsprechend der Beschreibung und Zuordnung durch Dart, ein graziler Australopithecine ist.Dart hatte den Fund aus Taung auf ein Alter von etwa eine Million Jahre geschätzt. Nach neueren Untersuchungen hat das »Kind von Taung« vor 2 bis 2,5 Millionen Jahren gelebt. Es ist demnach etwa anderthalb Millionen Jahre jünger als die ältesten der heute bekannten Australopithecinen und liegt gewissermaßen an der Untergrenze der Zeitspanne, in der Australopithecus africanus insgesamt lebte. Denn diese wird heute meist mit etwas über eine Million Jahre angegeben und reicht mit den ältesten Funden aus Makapansgat und Sterkfontein wahrscheinlich 3,3 bis 3,5 Millionen Jahre zurück.Mrs. PlesWiederum in Sterkfontein entdeckten 1947 der südafrikanische Anatom John Robinson sowie abermals Robert Broom den annähernd kompletten Schädel eines erwachsenen Australopithecus africanus, der die Fundbezeichnung STs 5 erhielt. Er wurde bald allgemein unter dem Spitznamen »Mrs. Ples« bekannt, da Broom ihn erst derselben Gattung (Plesianthropus) zuordnete, wie die 1936 in Sterkfontein gefundenen Fossilien.Für STs 5 ist die Zuordnung zu den grazilen Australopithecinen unstrittig. Deshalb kann man an diesem Schädel einige wesentliche Merkmale der Art Australopithecus africanus recht gut zusammenfassen und — wichtig für die stammesgeschichtliche Einordnung — diese Merkmale mit denen von Australopithecus afarensis vergleichen. Die Stirn von Australopithecus africanus und ihre Wölbung sind höher als bei dem stammesgeschichtlich älteren Australopithecus afarensis. Dementsprechend hat die jüngere Art auch ein etwas größeres Gehirn, dessen Volumen mit etwa 440 cm3 angegeben wird. Die Kieferregion ragt weniger weit vor, das Gesicht ist also steiler, die »Schnauzenbildung« (Prognathie) geringer. Dementsprechend kann angenommen werden, dass die Kaumuskulatur nicht so weit an der Schläfe des Schädels hinaufreichte wie bei Australopithecus afarensis. Der Unterkiefer ist recht massiv und an der Kinnspitze verstärkt, der aufsteigende Kieferast hat den Kaumuskeln breite Ansatzflächen geboten. Der Jochbeinbogen beginnt im Gesicht mit einer weit nach vorn gezogenen Verbreiterung, dem kräftigen Jochbeinhöcker. Ein knöcherner Stützpfeiler, der auf beiden Seiten von der Nasenwurzel am Nasenloch entlang zum Oberkiefer hinunterläuft und bei den Eckzähnen endet, verleiht dem Gesichtsschädel ein charakteristisches Aussehen. Bei Ansicht von vorn zeigt er ein nasoalveolares Dreieck.Das Gebiss von Mrs. Ples weist deutliche Unterschiede gegenüber Australopithecus afarensis und einige Ähnlichkeiten mit dem Gebiss des Menschen auf. So sind die Schneidezähne und vor allem auch die Eckzähne kleiner als bei Australopithecus afarensis und fallen in der Zahnreihe weniger auf, wodurch sie denjenigen des Menschen schon recht ähnlich sind. Die Prämolaren und die Molaren sind kleiner als bei Australopithecus afarensis und haben zudem mit 515 mm2 eine nur um knapp acht Prozent größere Kaufläche als diejenigen des Menschen, was überwiegend auf die größeren Molaren zurückzuführen ist. Insgesamt haben die Zähne bei Australopithecus africanus in beiden Geschlechtern sehr ähnliche Größe und Gestalt.Nach neuen Berechnungen werden die Körperhöhen der Frauen von Australopithecus africanus auf etwa 115 cm, die der Männer auf etwa 138 cm geschätzt. Die für die Körpermassen ermittelten Werte von 30 kg beziehungsweise 41 kg zeigen, dass die Männer ungefähr 20 % größer und gut ein Drittel schwerer waren als die Frauen. Demnach ist der Geschlechtsdimorphismus von Größe und Gewicht noch immer stärker als beim Menschen, doch scheint er deutlich schwächer auszufallen als bei Australopithecus afarensis.Robuste AustralopithecinenZurzeit werden von der überwiegenden Mehrheit der Fachleute drei Arten den robusten Australopithecinen zugeordnet, wobei diese von einigen Wissenschaftlern auch in eine eigene Gattung, Paranthropus, gestellt werden. Dieser Beitrag folgt der von der Mehrheit vertretenen Meinung, dass es sich um robuste Vertreter der Gattung Australopithecus handelt.Über die mit 2,3 bis 2,6 Millionen Jahren am weitesten zurückdatierte und somit älteste der drei Arten ist am wenigsten bekannt. Von ihr zeugen nur wenige Fundstücke, darunter jedoch ein sehr gut erhaltener und annähernd vollständiger Schädel, an dem nur der Unterkiefer fehlt. Dieser Mitte der 1980er-Jahre westlich des Turkana-Sees gefundene »Schwarze Schädel« (»Black Skull«), der die Fundbezeichnung KNM-WT 17000 erhielt, wird heute der robusten Art Australopithecus aethiopicus zugeordnet. Sie lebte zeitgleich mit Australopithecus afarensis, wobei sie wahrscheinlich sogar vom frühen Australopithecus afarensis abstammte. Darauf deutet zum Beispiel die eigentümliche Tatsache hin, dass beiden Arten die mittlere Hirnhaut-Arterie fehlt. Ein solches isoliertes Merkmal wird wahrscheinlich nicht unabhängig voneinander zweimal in demselben Zeitraum von Mitgliedern ein und derselben Gattung erworben und ist deshalb zumindest ein Zeichen für eine sehr enge verwandtschaftliche Beziehung.Im Vergleich zu Australopithecus afarensis ist der offenbar von einem männlichen Individuum stammende Schädel von Australopithecus aethiopicus deutlich massiver. Er trägt einen großen und hohen Schädelkamm als Ansatzfläche für die Kaumuskeln und einen starken Nackenkamm als Ansatz für die Halsmuskulatur. Leider kann über die Zeitspanne der Existenz dieser Art sowie über ihre Anatomie und ihre vermutliche Lebensweise aufgrund der spärlichen Fundlage kaum etwas ausgesagt werden. Über seine stammesgeschichtliche Beziehung zu den anderen Australopithecinen gibt es unterschiedliche Theorien. Übereinstimmung besteht jedoch darin, dass Australopithecus aethiopicus durchgängig abseits der zum Menschen führenden Zweige des Stammbaums platziert wird.Zeitlich anschließend an Australopithecus aethiopicus und vermutlich auch von diesem abstammend, tritt Australopithecus boisei vor 2,4 bis 2,2 Millionen Jahren in Erscheinung; die jüngsten Fossilien werden auf ein Alter von etwas mehr als eine Million Jahre datiert. Mary Leakey hatte 1959 in der Olduvai-Schlucht das erste und bis heute bekannteste Relikt dieser Art gefunden. Hierbei handelt es sich um den nahezu vollständig erhaltenen Schädel eines Jungen, der die Fundbezeichnung O.H. 5 und von den Leakeys den Spitznamen »Dear Boy« erhielt. Der Fund wurde von Louis Leakey zunächst in eine neue Gattung gestellt und Zinjanthropus boisei genannt, später jedoch Australopithecus zugeordnet. Australopithecus boisei war ein Zeitgenosse von Homo rudolfensis, der frühesten Menschenart, deren am weitesten zurückdatierte Funde 2,4 Millionen Jahre alt sind. Nachdem dieser ausgestorben war, lebte Australopithecus boisei dann noch zeitgleich mit Australopithecus robustus sowie Homo habilis und teilte für mindestens eine halbe Million Jahre den afrikanischen Lebensraum mit Homo erectus, bis er als letzter Australopithecine ausstarb und unsere eigene Gattung, Homo, als einziger Vertreter der Hominiden übrig blieb.Merkmale der robusten AustralopithecinenBei Australopithecus boisei handelt es sich um eine, vor allem wegen ihres Kauapparats gelegentlich auch als hyperrobust bezeichnete Art, deren große Prämolaren und Molaren eine Kaufläche von rund 800 mm2 bilden. Die Backenzahnbreite beträgt teilweise über 2 cm und der Zahnschmelz ist, wie bei allen robusten Australopithecinen, besonders dick. Die seitlich weit ausladenden Jochbeinbögen verleihen dem Schädel eine in die Breite gezogene Gestalt. Sie bieten einer mächtigen Kaumuskulatur viel Platz und tragen dadurch dazu bei, den vermutlich großen Kaudruck aufzufangen.Das Gehirn ist mit einem Volumen von etwa 500 bis 530 cm3 größer als das der grazilen Australopithecinen, was aber nichts über den jeweiligen Entwicklungsstand aussagt, da hierzu das Gehirnvolumen immer in Relation zur Körpermasse betrachtet werden muss. Über die Körpergröße und die Körpermasse von Männern und Frauen dieser Art gibt es derzeit kaum gesicherte Erkenntnisse. Während die Frauen auf etwa 125 cm geschätzt wurden, könnten die Männer über 135 cm Körpergröße erreicht und ihre Körpermasse, aufgrund des massiven Körperbaus, bis zu ungefähr 75 kg betragen haben.Die dritte, zu den robusten Australopithecinen zählende Art ist Australopithecus robustus, ein Hominide, dessen Fossilienfunde auf ein Alter zwischen 1,8 und 1,2 Millionen Jahre datiert worden sind. Diese Art wurde erstmals 1936 von Robert Broom im südafrikanischen Kromdraai entdeckt und beschrieben. Ihre Prämolaren und Molaren sind etwas weniger gewaltig als bei Australopithecus boisei, denn ihre Kaufläche ist mit fast 590 mm2 um etwa ein Viertel kleiner; sie ist jedoch immer noch um 14 % größer als die von Australopithecus africanus, dem grazilen Australopithecinen. Ähnlich wie Australopithecus boisei besitzt auch Australopithecus robustus einen besonders dicken Zahnschmelz. Im Rasterelektronenmikroskop ist zu erkennen, dass die Belastung des Zahnschmelzes bei beiden Arten wohl ungleich stärker war als bei den grazilen Australopithecinen. Dies lässt Rückschlüsse auf die Ernährungsgewohnheiten dieser Arten zu. Wahrscheinlich führten Kerne und andere hartschalige Samen zu den grubenförmigen Spuren im Zahnschmelz. Auch der Gesichtsschädel zeigt Anpassungen, die dazu dienen, den bei dieser Art von Ernährung entstehenden großen Kaudruck aufzufangen. Der Überaugenwulst, der zusammen mit dem ausladenden Jochbeinbogen den Druck der kräftig entwickelten Kaumuskulatur ableitet, ist bei Australopithecus robustus derart mächtig und vorspringend, dass er auch als Überaugenrippe bezeichnet wird.Australopithecus boisei und Australopithecus robustus bewohnten offenes Buschland und waren zweifellos Aufrechtgänger. Einige Merkmale weisen auch auf die Fähigkeit zu klettern hin. So suchten sie möglicherweise abends Baumwipfel auf, um dort zu schlafen und dadurch besser vor Angriffen durch Fressfeinde geschützt zu sein. Zusammen mit den fossilen Resten von Australopithecus robustus wurden einfache Steinwerkzeuge gefunden. Ob diese von Vertretern seiner Art stammen oder von zeitgleich lebenden Menschen ist bislang unklar.Welche frühen Hominiden waren unsere Vorfahren?Nach der paläontologischen Forschung lassen sich Vorfahren der Primaten etwa in Purgatorius ebenso ausmachen wie Urahnen der Affen in den Tarsiiformes, Parapithecidae oder Propliopithecidae. Hominide Vorläufer sind bislang mit dem »Connecting Link« Ardipithecus ramidus und den Australopithecinen, allen voran dem prominenten Australopithecus afarensis »Lucy«, identifiziert. In welcher Beziehung diese evolutionsgeschichtlichen Frühformen zum Menschen stehen, wie sie also in dessen Stammbaum einzugliedern sind, ist noch immer offen. Zwar kann die grundsätzliche Frage, ob der Mensch überhaupt »vom Affen abstammt«, in der sich vor hundert Jahren die einschlägige Diskussion (und nicht nur sie) weitgehend erschöpfte, heute als geklärt gelten. Die Vielzahl konkurrierender Theorien, wie sie allein zum Beispiel über die Biomechanik des aufrechten Gangs von Australopithecus afarensis entworfen worden sind, zeigt aber die Komplexität paläontologischer Fragestellungen, die nicht von ungefähr in eine Vielzahl unterschiedlicher Entwürfe menschlicher Stammesgeschichte mündet. Diese ist damit vor allem Ausdruck der verschiedenen Akzente, die bei der Interpretation fossiler Funde gesetzt werden, und Spiegelbild des Mosaiks bekannter und noch im Dunkeln liegender Zusammenhänge.Vor diesem Hintergrund steht bisher allein fest, dass die Vorfahren des Menschen Menschenaffen waren. Unsere nächsten Verwandten sind die Angehörigen der Familie Panidae, nämlich die Schimpansen und der Gorilla, wobei sich die Linien der Panidae und Hominidae vor etwa 5 bis 7 Millionen Jahren in Afrika aufgespalten haben.Demzufolge sind die ältesten Hominiden mit Ardipithecus nach gegenwärtiger Fundlage etwa 4,4 Millionen Jahre alt. Ob diese Frühform als ein direkter Vorfahr des Menschen gelten kann, muss derzeit noch dahingestellt bleiben. Denn während der Finder von Ardipithecus, Tim White, von einer solchen engen Verwandtschaft überzeugt ist, wird dieser Fund von Meave Leakey lediglich einem Seitenzweig des menschlichen Stammbaums zugeordnet. Nach ihrer Interpretation besetzt Australopithecus anamensis die entsprechende Schlüsselstelle der Evolutionsgeschichte.Die kleinwüchsigen Arten der Australopithecinen-Stammgruppe, zu denen auch Australopithecus anamensis zählt, zeigen seit über 3,5 Millionen Jahren deutliche anatomische Anpassungen an eine aufgerichtete Körperhaltung und einen gewohnheitsmäßig aufrechten Gang, wie die fossilen Fußspuren von Laetoli belegen. Dagegen ist die Evolution zu einem größer und komplexer werdenden Gehirn bei den Australopithecinen nur andeutungsweise zu erkennen. Nach der Entdeckung eines anderen Mitglieds der Australopithecinen-Stammgruppe, von Australopithecus afarensis, der berühmten »Lucy«, hatte Donald Johanson diesem Hominiden die Rolle als Urahn der Menschheit zugewiesen, der mit einem Alter von 2,6 bis 2,9 Millionen Jahren nach damaliger Fundlage zeitlich am weitesten zurückreichte. Johansons Ansicht wird auch nach den vielen Entdeckungen der letzten Jahrzehnte noch von den meisten Wissenschaftlern geteilt.Die einzige Art der grazilen Australopithecinen, Australopithecus africanus, nimmt in den verschiedenen Stammbaumvarianten sehr unterschiedliche Positionen ein. Einmal wird sie zwischen Australopithecus afarensis und die Gattung Homo platziert, wo sie entweder an der stammesgeschichtlichen Verzweigung zwischen Menschen und Australopithecus robustus steht oder sogar nur den Menschen als Nachfahren hat. Ein anderes Mal wird sie als Ursprungsart ausschließlich für Australopithecus robustus gesehen und hat keine weiteren Nachfahren. In wieder anderen Systematiken stammen von Australopithecus africanus alle robusten Australopithecinen ab, und Donald Johanson vertritt die These, dass Australopithecus africanus auf einem Seitenzweig zu den robusten Arten gehöre. An dieser Vielfalt zeigt sich, dass Australopithecus africanus nicht nur die am längsten bekannte Art der Australopithecinen ist, sondern auch die größte Vielfalt an Interpretationsvarianten im Stammbaum der Hominiden bietet.Die robusten Australopithecinen schließlich zweigen je nach systematischer Zuordnung in unterschiedlicher Weise von Australopithecus africanus oder Australopithecus afarensis ab. Als sicher gilt bei aller Variation, dass sie zu einem Seitenzweig des Stammbaums gehören und demnach nicht als Vorfahren des Menschen zu betrachten sind.Zusammenfassend bleibt zur menschlichen Vorfahrengeschichte festzuhalten: Die Gattung Australopithecus gehört, darin ist sich die paläontologische Forschung einig, mit Sicherheit in die unmittelbare Vorfahrenschaft des Menschen. Offen bleibt aber nach wie vor, welchen Platz die einzelnen Arten im Stammbaum der Hominiden einnehmen und aus welchem Zweig sich schließlich die Gattung Homo entwickelt hat.Prof. Dr. Carsten NiemitzWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Homo habilis und Homo rudolfensis: Die ersten MenschenGrundlegende Informationen finden Sie unter:Affen als Urahnen des MenschenBräuer, Günter: Die Entstehungsgeschichte des Menschen, in: Brockhaus. Die Bibliothek. Grzimeks Enzyklopädie Säugetiere, Band 2. S. 490-520. Leipzig u. a. 1997.Bräuer, Günter: Vom Puzzle zum Bild. Fossile Dokumente der Menschwerdung, in: Funkkolleg Der Mensch. Anthropologie heute, herausgegeben vom Deutschen Institut für Fernstudienforschung an der Universität Tübingen Heft 2. Tübingen 1992.Die ersten Menschen. Ursprünge und Geschichte des Menschen bis 10000 vor Christus, herausgegeben von Göran Burenhult. Aus dem Englischen. Hamburg 1993.Evolution des Menschen, herausgegeben von Bruno Streit. Heidelberg 1995.Evolution des Menschen. Band 2: Die phylogenetische Entwicklung der Hominiden, bearbeitet von Peter Schmid und Elke Rottländer. Tübingen 1989.Die Evolution des Menschen. in: GEO Wissen, Heft 2/1998. Hamburg 1998.Hominid evolution. Past, present and future, herausgegeben von Phillip V. Tobias. Neudruck New York 1988.Johanson, Donald und Edey, Maitland: Lucy. Die Anfänge der Menschheit. Aus dem Amerikanischen. Neuausgabe München u. a. 21994.Johanson, Donald und Edgar, Blake: Lucy und ihre Kinder. Aus dem Englischen. 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Universal-Lexikon. 2012.